«Bei einem ‚Critical Incident‘ muss man in erster Linie einen kühlen Kopf bewahren»

30.09.2022

Berufsleute im Marketing, im Verkauf und in der Kommunikation werden regelmässig mit herausfordernden Situationen konfrontiert, in denen sie umgehend reagieren und rasche Lösungen finden müssen. Lernen können sie diese Kompetenz in ihrer Weiterbildung beispielsweise im Modul «Critical Incidents», das an der ibW Höhere Fachschule Südostschweiz von Adrian Marty unterrichtet wird. Der 55-jährige Dozent und Marketingberater aus Ziegelbrücke im Interview.

Adrian Marty, was sind Critical Incidents genau?

Es handelt sich um erfolgskritische Praxissituationen, in denen sofortiges Handeln gefordert ist. Grundlage ist das gesamte Wissen, das sich die Studierenden in ihrer Ausbildung angeeignet haben. Dazu kommen dann Fähigkeiten und Kenntnisse, um solche kritischen Situationen mit Ruhe, Gelassenheit und Souveränität zu meistern.

 

Was ist die Schwierigkeit dabei?

Der zeitliche Faktor ist kritisch. Oft heisst die zentrale Frage: Was mache ich in einem konkreten Krisenfall zuerst? Es gibt immer viele Optionen und keine Schwarz-Weiss-Antwort, die auf jeden Fall zutrifft. Für die eidg. Prüfung sind Marketingfachleute eher bei Problemsituationen oder im Krisenmanagement gefragt. An der Prüfung für Verkaufsleiter können Critical Incidents auch einfach in der Herausforderung liegen, sofort und spontan ein Konzept oder eine Präsentation zeigen zu müssen.

 

Gibt es grundsätzliche Rezepte, die man im Falle einem überraschenden Krisenfalls prioritär beachten muss?

Sicher muss man zuerst einmal kritische Situation erkennen und die möglichen Handlungsoptionen abwägen. Wenn beispielsweise der Online-Shop einer Firma plötzlich offline ist, dann ist naheliegend, dieses Problem in den Fokus der Lösung zu stellen, weil dem Unternehmen dadurch laufend Einnahmen entgehen. Es ist auf jeden Fall wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren, schnell den Sachverhalt zu klären und Sofortmassnahmen zu ergreifen. Sehr oft sind dies kommunikative Massnahmen, in der Regel zuerst intern, dann extern. Das richtige Wording, gemeint im Sinne einer kurzen Stellungnahme, ist hierbei oft entscheidend. Dann geht es meist darum, Unterstützung bei der Lösung des Problems herbeizuziehen, Möglichkeiten zu erörtern und Aufgaben zu delegieren. Die Chronologie der Lösungsfindung ist bei Critical Incidents entscheidend, auch rechtliche Fragen müssen allenfalls beachtet werden. In dieser ersten Phase geht es nicht um das Finden von Schuldigen, sondern von Lösungen. Learnings können dann später in Phasen der Aufarbeitung gezogen werden.

 

Adrian Marty

Der Druck, in Krisensituationen kühlen Kopf zu bewahren und die richtigen Schlüsse und Entscheidungen zu ziehen, ist demzufolge die grosse Herausforderung bei «Critical Incidents». Wie könnt Ihr das in einer Weiterbildung simulieren?

Wir arbeiten sehr praxisorientiert mit Mini-Cases und disruptiven Situationen wie Zwischenfragen, um solche Fälle zu trainieren. Dann heisst es üben, üben, üben - und reflektieren. Viel hilft auch, wenn man sich der Thematik von «Critical Incidents» im Alltag bewusst wird und Praxissituationen, die man zum Beispiel in den Medien erfährt, beleuchtet und hinterfragt, wie die entsprechenden Firmen und Personen den Fall kommunikativ behandelt haben.

 

Können Sie einige Beispiele nennen?

Ein negatives Beispiel sind sicher die Abgasskandale bei VW und Audi in den letzten Jahre, als versucht wurde, die Vorwürfe kleinzureden und zu beschönigen. Kritik zu beschwichtigen ist immer heikel, besonders dann, wenn sie sich dann als Wahrheit herausstellt. Auch die wiederholten Skandale der CS haben sich meiner Meinung nach schädigend auf das Image der Bank ausgewirkt, da die Kommunikation seitens der CS suboptimal war. Andererseits hat beispielsweise der Fall Skyguide, als im Sommer 2022 der gesamte Schweizer Luftraum wegen eines technischen Fehlers gesperrt werden musste, gezeigt, dass eine gute Krisenkommunikation kaum negative Folgen für ein Unternehmen hat: Sofort kam damals eine allgemein gehaltene Stellungnahme, danach eine Ankündigung einer PK am selben Nachmittag, die dann weitere Fragen beantwortete. Und im Nachgang eine Aufarbeitung, die sämtliche Details klärte. Kurz: Das Unternehmen hatte die Kommunikation im Griff, es gab kaum ein Imageschaden für Skyguide. Und dann gab es auch Fälle wie am Openair Lumnezia, als der Strom ausfiel und die Leute drei Stunden im Dunkeln sassen. Da ist es auch relativ lange gegangen, bis das Problem gelöst wurde. Es hatte fast den Anschein, dass kein Plan B für diesen Critical Incident vorhanden war. Die Verantwortlichen haben da sicher auch ein paar Learnings daraus gezogen.

 

Der Faktor Zeit ist bei einem kritischen Zwischenfall somit entscheidend?

Absolut. Ein Critical Incident darf sich nicht raufschaukeln. Man darf zwar nicht voreilig kommunizieren, aber es braucht eine zeitnahe, gute Stellungnahme. Je länger man sich Zeit lässt, desto grösser ist die Gefahr von Gerüchten, Spekulationen und Fragezeichen. Natürlich ist es absolut nötig, jederzeit glaubwürdig und ehrlich zu kommunizieren.

Die Unterrichtsstruktur, die Checklisten und Trainings haben sich bewährt.
Adrian Marty

An der ibW Höhere Fachschule Südostschweiz lernen Verkaufsleiter und Marketing-Fachleute diese Skills. Was wird denn an den eidg. Prüfungen diesbezüglich gefordert?

Zuerst einmal müssen die Studierenden erkennen, was überhaupt der «Critical Incident» ist. Ein typisches Beispiel ist ein sich anbahnender Shitstorm auf einem Social-Media-Kanal einer Firma. An den Prüfungen müssen die Studierenden vier Fälle in 30 Minuten bewerten und in dieser Drucksituation Entscheidungen fällen und kommunizieren. Grundsätzlich hat man eine bis zwei Minuten Zeit, sich in den Fall einzulesen, dann muss man sofort den Lösungsweg aufzeigen und sich den Fragen der Expert/-innen stellen. Ähnlich wie bei einer Präsentation ist es empfehlenswert, eine Struktur der Antwort zu finden: einen Einstieg mit einer Analyse, gefolgt von einer stets argumentierten Chronologie der Massnahmen, mit einem Abschluss aus Learnings und rechtlichen Erwägungen.

 

Der ehemalige ibW-Student Tobias Walter wurde 2020 als schweizweit Jahrgangsbester im Fach Critical Incidents ausgezeichnet. Was bedeutete dies für Sie als Dozent?

Sicher war dies eine Bestätigung, dass an der ibW die richtige Vorgehensweise vermittelt werden. Allerdings war Tobias auch ein Student, der schon einige Erfahrungen mitgebracht hat, was sicher viel hilft. Aber natürlich hat mich dieses Ergebnis auch stolz gemacht, weil es zeigt, dass sich die Unterrichtsstruktur, die Checklisten und Trainings nicht nur in der Praxis, sondern auch an der eidg. Prüfung bewähren.

 

Und was gefällt Ihnen persönlich am Unterrichten dieses Fachs?

Es ist extrem praxisorientiert, es sind Fälle - zumindest die meisten -, denen man im Marketing, im Verkauf und in der Kommunikation im Berufsleben immer wieder begegnet und somit auch direkt umsetzen kann. Man kann dies gut üben und trainieren, um die nötige Souveränität zu gewinnen. Es ist befriedigend, wenn die Studierenden nachher in der Praxis sehen, dass ihnen die Weiterbildung konkret weitergeholfen hat.